Der amerikanische Konzeptkünstler Mike Kelley (*1954 Detroit, Michigan, USA) analysiert in seinen Werken seit gut 30 Jahren auf überraschende und provozierende Weise tradierte gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen. Dabei hat Kelley, der gattungsübergreifend arbeitet, immer wieder Erinnerung, Verdrängung und verschüttete Kindheitstraumata ins Zentrum seiner subversiven Inszenierungen gerückt.
Der Werkzyklus Kandors, der sich aus einer Vielzahl einzelner, zum Großteil im Jahre 2007 entstandener Arbeiten zusammensetzt, geht namentlich und thematisch auf den fiktionalen Geburtsort der Comic-Legende Superman zurück. Im Superman-Mythos bewahrt der zum Planeten Erde geflüchtete Superheld diesen Ort als letzten Rest seines zerstörten Heimatplaneten Krypton in verkleinerter Form unter einer Glasglocke in seiner „Festung der Einsamkeit“ auf. Auf diese Stadt Kandor beziehen sich Kelleys Skulpturen, Videos und Leuchtbilder der Werkgruppe. Sie zeigen Stadtansichten und Silhouetten, die unmittelbar auf die Comiczeichnungen der Superman-Hefte zurückgehen. Das variierende Aussehen dieser einen Stadt verdankt sich der erstaunlichen Tatsache, dass die Darstellung Kandors im Comic nicht vereinheitlicht wurde. Als ständig bewahrtes, aber immer neu gestaltetes Relikt aus Supermans Kindheit wird Kandor für Kelley so zu einem Instrument, den Abgründen und Traumata der Erinnerung nachzugehen.
Mit dem Thema Kandor hat sich Kelley erstmals anlässlich der Ausstellung Zeitwenden im Kunstmuseum Bonn im Jahre 2000 auseinandergesetzt. Damals verfolgte er das Ziel unter Einbeziehung eines breiteren Publikums, einen „kulturellen Fantasieraum“ zu entwickeln. Kandor-Con, so der Titel, plante Kelley als interaktives Projekt mit eigener Internetplattform; es sollte das „widersprüchliche Wesen der Stadt [Kandor] als ein animiertes ‚Pulsieren'“ (Kelley) darstellen. Das Kandor-Projekt, das 2007 entstand und aktuell immer noch weitergeführt wird, nimmt Abschied von einer umfassenden Rekonstruktion der Stadt und konzentriert sich stattdessen auf formale Aspekte der Kandor-Flaschen und auf die Übertragung graphischer, zweidimensionaler Bilder in dreidimensionale Skulpturen. Die glatten Flächen der Hintergrundfarben aus den Comics wurden als beleuchtete Plexiglaswände dargestellt. Die verschiedenen Fassungen von Kandor sind in Form von Gießharzskulpturen in verschiedenen, von unten beleuchteten Farben ausgeführt. Die originalen Comicvorlagen wurden graphisch verändert und dann als 3 D-Leuchtkästen ausgeführt. Mit diesen Mitteln gibt Kelley dem fiktiven Ort nicht nur eine Gestalt, sondern auch eine Gegenwart: Er löst das Stadt- und Gesellschaftsmodell aus dem paradoxen Zustand der zukünftigen Vergangenheit.
In den Museen Haus Lange und Haus Esters werden neben neun Kandor-Skulpturen die vier Videoinstallation Crystal Rocks, sieben Lenticulars (3-D-Leuchtkastenbilder) sowie vier Videoanimationen präsentiert. Die Werke verbinden sich zu einem schillernden, multimedialen Gesamtereignis, das die Ausstellungsräume in ein magisches Labor mit soziokulturellem Kontext verwandelt - gleichsam eine industrialisierte Homunculuskammer, in der nicht Menschen, sondern Welten aus der Retorte erschaffen werden.
Katalog
mit einem Text von Mike Kelley, 84 Seiten, Englisch / deutschen Begleitheft, Hirmer Verlag, München, Buchhandelspreis: 39,80 Euro, Museumsausgabe 28 Euro